Robert Blum [2020]

Nachts, wenn man fahrig fiebrig schläft, wird es grau – 
gemolken die Wolken, der Rabe taucht vor der inneren Leinwand auf,
aus dem Himmel über der Brigittenau taucht er ab, an den Verzwirbelungen
der Wolken kurz vor dem Regen kommt es Dir vor, als ob du aus der Vergangenheit
eine Salve hörst – ganz sanft, dann plötzlich eindringlich laut von den Wänden hallend.
Ich schrecke auf, denn ich war im Halbschlaf schon wieder im Damals.
Nach der Arbeit im Dauerstau biege ich rechts ab in die Seitengasse,
um meinen Traum mit der Realität zu verknüpfen.
Wieder ist der Himmel in diesem Aprilsommer 2020 ein Gemälde mit 50 Facetten von Grau
und ich finde die Stelle im Gemeindebau, an der Du Dein Leben lassen musstest.
Du stürztest in den Dreck des Militärübungsplatzes, und mit Dir zogen hundert dunkle Jahre auf,
in denen die alten Gespenster weichen mussten, aber nur,
um im schlechtesten Moment der Geschichte Fahrradfahrer hervorzubringen,
die hinter einer dreifach verschlossenen Türe über ihren Kadavergehorsam
jauchzen und Ihren Haustieren erzählen, dass zwei und zwei fünf ist.
Mit Deinem Sturz in die Grube reißt Du den
Vorhang auf für hundert dunkle Jahre – ich drehe mich um,
wieder bin ich in einem unruhigen Halbschlaf.

Du hast Sie gerockt, würde man heute sagen,
bist mit einem Schiff kommend wie ein König in Deiner Heimatstadt
Köln empfangen worden, du hörtest lobende Worte, aber
Worte kommen nach Taten. und wie oft haben sie sich
in der Paulskirche entzweit und gestritten, ohne zu einem 
Ergebnis zu kommen. Schaute Dein Blick über die andere Seite vom großen
Fluss, da wusstest Du, dass man Macht, um sie gerecht zu gestalten,
reglementieren muss – eine Konstitution. Bis zum Vize-Parlamentspräsidenten
hast Du es gebracht, aber du warst ein Getriebener, immer über Dir
der Rabe, der Dich nach Wien begleitet hat – immer nur Wien, ja Wien,
die alte Kaiserstadt, die Barrikaden – vielleicht hast du als Kind der
Aufklärung zu sehr an das Gute im Menschen geglaubt, denn
du bist an SIE geraten – SIE haben Dich verhaftet, denn SIE generieren
aus einem Vakuum das Gottesgnadentum des immer so.

Ich bin der Raabe, der über die Kutsche fliegt, die dich am 9. November
zur Erfüllung deines Schicksals bringt – was hast Du nur gedacht, Du warst
sicher fahrig, und konntest es nicht fassen, SIE tun es tatsächlich, doch an
diesem Tag reißt der Himmel endlich auf. Ich gleite langsam in das zarte Blau,
sehe Dich auf dem Militärübungsplatz Brigittenau in den Augenwinkeln noch an
der Wand stehen, und höre die kurze aber heftige feurige Salve der Vorderlader – aber –

Kugeln gehen durch Ideen wie durch Luft, man kann eine Idee, egal ob
sie gut oder schlecht ist, nicht mit ein paar Gramm Blei aus der Welt pusten.

Ideen brauchen Handeln – immer – und Handeln bedingt auch immer neues Handeln
und neues Handeln gebiert neue Ideen in einer ewigen Symbiose – gut so – ich wälze mich im Kissen und finde endlich Schlaf. 

In Gedenken an Robert Blum (1807-1848), Demokrat der ersten Stunde, der in der Brigittenau am 09. November 1848 erschossen worden ist. Das Foto zeigt den Ort der Hinrichtung heute.

Foto: Kai-Kristian Klös.

Dazu passt folgende Musik:

 

Kai

About the author

Geboren 1971 in Gießen / Hessen, Lyrik-Autor