Nachtzug [2019]

Nachdem dein Tagwerk abgeklungen ist,
läufst Du zu den Gleisen,
um der nassen Kälte des Bahnhofes zu entkommen.
Der Sprung in den Zug entrückt dich
von der feuchten Welt, von den fiebrigen Arbeitsschüben
des Tages.
Du siehst die letzten Aktentaschenträger, die letzten
Helden des Tages, die in die Müdigkeit der
Nacht abtauchen und wie Mücken umherschwirren.
Die Nachtgestalten halten Einzug.
Die Türen schließen sich und das Neonlicht im
Gang des Zuges steht im gleißenden Weiß mit einer
Ahnung von Blau im Widerspruch und in Symbiose zur Nacht.
Der Zug fährt an, und dein Gegenüber auf der Sitzbank
öffnet eine Kanne Bier und eröffnet für sich den Reigen der Nacht
Der Zug springt sein tanzendes Ballett über die Weichen
des Bahnhofes und jedes Rattern des Zugräder auf den nicht verschweißten
Schienen vergegenwärtigt dich deines Fortbewegungsmittels.
Du lehnst mit Deinem Kopf an der Scheibe, und du merkst,
wie sich die klassizistische Stadt in einen Reigen von Lichter-
fetzen verwandelt. Die Lichterfetzen werden weniger, und
schließlich umtobt dem Zug ein allmächtiges erstickendes Schwarz.
Was suchen wir eigentlich in der Fahrt – Das Entkommen aus
der Hektik des Tages, aus dem weiten Blick der sozialen Beziehungen?
Du bist auf deinem Weg, du weißt es, und du weißt, dass
sie dich auf der Bahnhofsinsel in der Nacht willkommen heißen
wird.
Der Nachtzug führt uns durch die Nacht – er ist unser Traum,
der uns zum Morgenexpress führt.

Aus dem Kopfhörern des Gegenübers ertönt ganz leise Ancient Longing

Kai

About the author

Geboren 1971 in Gießen / Hessen, Lyrik-Autor